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Der Sound des aufgeklärten Islam

Was können uns Religionen heute noch sagen? Navid Kermani gibt in seinem Buch Antworten

„Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen“ – was für ein Titel: poetisch und ein wenig rätselhaft. In jedem Fall ein gelungener Auftakt, dessen Versprechen – was Poesie, Rätselhaftigkeit und Gelingen gleichermaßen angeht – der Autor auf den Seiten dieses Werks einlöst. Bei diesem handelt es sich, um gleich einem Missverständnis vorzubeugen, um kein Kinderbuch (auch wenn es Jugendlichen zu empfehlen ist). Navid Kermani schildert darin Gespräche mit seiner zwölfjährigen Tochter, was aber den Vorzug hat, dass gerade dadurch kein altkluges, erwachsenes Zeug daherkommt, sondern Versuche zu besichtigen sind, die Fragen eines erwachenden und in diesem Fall auch recht kritischen Bewusstseins zu beantworten. Es ist passagenweise ein unterhaltsam geschriebener sokratischer Dialog, in dem die Tochter die Fragen stellt und der Vater gut zu tun hat, sie bestmöglich zu beantworten – bevor er in die Küche muss, um das Mittagessen zu kochen.
Es gibt mehrere Aspekte, die das Buch besonders machen, zwei will ich hervorheben. Zum einen stellt Kermani, wie auch schon in vielen seiner Veröffentlichungen zuvor, die alte und immer neue Frage nach Gott. Er tut dies auf eine verständliche, packende, unterhaltsame Weise in diesem, nennen wir es mal: dialogischen Sachbuch. Nichts gegen Sloterdijk („Nach Gott“), dem manche brillante Formulierung gelingt, in dessen Texten der Leser aber doch das Gold aus vielen Pfannen Sand herauswaschen muss. Kermani entspannt ein Tableau, das es auch einem dem Agnostizismus zugeneigten Leser wie mir nachvollziehbar macht, warum das Thema Religion aktuell bleiben wird, auch in einer zunehmend säkularen Gesellschaft wie der unseren. Denn es spricht vieles dafür, dass sich nur die Institutionen auflösen, also die Kirchen, aber das Nachsinnen über erste und letzte Frage bleiben wird (und vielleicht erodieren die Strukturen sogar wegen dieses Nachsinnens, das ja zum Ergebnis haben könnte: Da stimmt etwas nicht).
Gut, an wenigen Stellen setzt der Agnostiker in mir Fragezeichen, da folge ich dann nicht in die Höhen mystischer gedanklicher Bergpfade, über die der Autor gelegentlich führt – wobei ich mit Interesse beobachte, wie er hinter den Schwaden verschwindet, um kurz danach wieder aufzutauchen. An einer Stelle schreibt Kermani: „Im Innersten einer jeden Zelle und in der Ordnung des ganzen Kosmos wirkt etwas Konkretes und Absichtsvolles, nicht nur unbestimmtes, reines Sein.“ Genau dies aber kann man glauben oder nicht glauben. Nur bleibt es aus strenger erkenntnistheoretischer Sicht eben dabei: Beides ist möglich.
Kermani gelingt es auf beeindruckende Weise, die Schönheit religiöser Gedankenwelten für die heutige Zeit herauszuarbeiten, angefangen von der Frage, warum es die Welt gibt und nicht einfach nichts. Er schildert pointiert und kurzweilig aktuelle und auch für Atheisten höchst spannende Widersprüche der Naturwissenschaften, besichtigt die Schranken unseres Erkenntnis- und überhaupt Vorstellungsvermögens, wenn es um die größten (Unendlichkeit) und kleinsten Dinge geht (wie die Auflösung aller „festen“ Strukturen oder die Quantenverschränkung über Distanz). Man muss selbst nicht religiös musikalisch sein wie Kermani, um sich von seinen Sätzen dazu inspirieren zu lassen, die eigene mentale kosmische Schnittstelle zu pflegen oder mal darüber nachzudenken, ob Atheismus nicht auch ein Glaube ist, der durchaus Zweifel zulässt.
Ohne innere Brüche führt der Autor in seinem Werk auf ein weiteres Feld, indem er nachvollziehbar macht, was viele Menschen am Islam so fasziniert. In der westlichen Bevölkerung löst diese Weltreligion durch die damit gedanklich assoziierten Konflikte und Gewalttaten überwiegend Skepsis und Ablehnung aus, wie Umfragen zeigen. Kermani spricht dieses Thema auch deutlich an: „Täglich gibt es Nachrichten, die den Islam in kein gutes Licht rücken. In Iran, wo wir herkommen, wird das Volk im Namen des Islams unterdrückt. Im Koran selbst stoße ich auf Verse, die mich erschrecken. Warum habe ich mich nicht vom Islam abgewandt? Warum bin ich, obwohl ich so viel gereist bin, in Länder, in denen der Islam engstirnig und sogar gewalttätig ausgelegt wird, obwohl ich so viele Bücher gelesen habe, auch über andere Religionen — warum bin ich bei vollem Bewusstsein Muslim geblieben?“
Die Frage beantwortet er, in dem er zeigt, welche Schönheit der Islam zu bieten hat, vor allem am Beispiel von – übrigens selbst übersetzten – Suren und Hadithen (Überlieferungen außerhalb des Korans). Die Werke von Islamexperten wie Annemarie Schimmel oder Angelika Neuwirth bieten einen wissenschaftlichen Zugang. Kermani bringt andere Saiten zum Klingen. Und so macht er es nachvollziehbar, warum der Koran seit 1400 Jahren die Menschen ebenso fasziniert wie die heiligen Schriften der anderen Weltreligionen. Es geht ihm dabei an keiner Stelle darum, dass der Islam die „bessere“ Religion ist, und er hält es auch für wichtig, dass sich Religionen zeitgemäß weiterentwickeln. Seine These: die Religionen sind unterschiedliche Botschaften aus derselben Quelle. Dazu zitiert er aus dem Koran (Sure 5, 48):

„Jedem von euch gaben wir ein Gesetz und einen Weg,
Hätte Gott gewollt, er hätt’ euch zu einer einzigen Gemeinde gemacht —
Doch wollt’ er euch prüfen in dem, was er euch gab.
Wetteifert darum um das Gute!
Ihr alle kehrt zurück zu Gott,
Und aufklären wird er euch, worüber ihr uneinig seid.“

Gehört der Islam zu Deutschland? Kermani hat in dem Buch eine gehaltvolle literarische Antwort zusammengestellt – „sein“ Islam jedenfalls ist zweifellos eine Bereicherung.

Am Rande: Dass Kermani, den die Grünen einmal als möglichen Bundespräsidenten ins Gespräch brachten, ein freier Geist ist, hat er auch bewiesen, als er jüngst in seinem ersten Beitrag als Kolumnist der „Zeit“ seine Leser mit einem fetten Fragezeichen zum sprachlichen Gendern verblüffte. Also nicht wundern – so fehlt konsequenterweise auch das Gendersternchen und der Slash im Titel des hier rezensierten Werks.

Navid Kermani: Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen. Fragen nach Gott
Verlag Carl Hanser, 2022

Beitrag geringfügig sprachlich redigiert am 20. September 2023.

Veröffentlicht in # 02-22 Erkenntnistheorie Religion Rezension

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