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Die verschwommene Linie zwischen Wissen und Glauben

In seinem Essay „Über Gott und die Welt“ geht Stefan Noir, Elektrotechniker und Informatiker, der Frage nach, wie sich Glauben und Wissen unterscheiden. Da fragt man sich verblüfft: Schließt das eine das andere nicht aus? Der Autor weist auf Überlappungen und Schnittmengen hin. So beruhe etwa die Mathematik in ihren Grundlagen auf Annahmen – das aber sei nichts anderes als Glauben. Wir wollen hier den bescheidenen Einwand erheben, dass auch die Evidenz offensichtlich diesem mathematischen Glauben zuzuneigen scheint, da sonst erheblich mehr Brücken einstürzen würden als bis dato beobachtet. Andererseits: Gemeinsame Schnittmengen gibt es in der Tat, und zwar geht es ja schon dann los, wenn Wissen angezweifelt wird. Noir schildert ein Gespräch über die Verschränkung von Teilchen über weite Distanzen hinweg, was die als unüberwindbar geltende Grenze der Lichtgeschwindigkeit in Frage stellt; als er dies seinem Gesprächspartner vorgetragen hatte, meinte der schlicht, das glaube er nicht.

So lässt sich hier festhalten: Die Hypothesenbildung, Grundlage der Forschung, erfolgt offensichtlich auf demselben Territorium – oder benachbartem Gebiet – des Glaubens, oder nennen wir es mal neutraler: der Annahmen. Nun gilt ja dem nach wie vor maßgeblichen kritischen Rationalismus zufolge, dass Hypothesen – also Annahmen über die Wirklichkeit – immer nur vorläufig gelten, bis sie widerlegt werden; möglich wäre das jederzeit, da wir nicht in die Zukunft blicken können. Reichlich überspitzt gesagt, leben wir also auch in einer Glaubenswelt, wenn wir Wissen meinen.

Daher sollte die Debatte von grundsätzlichem Respekt aller Beteiligten geprägt sein. Man könnte ja plötzlich widerlegt werden. Und tatsächlich ist Wissenschaft nicht „demokratisch“, auch Minderheiten oder Dissidenten können Recht haben (Giordano Bruno, Galileo Galilei). Was aber nicht heißt, dass Dissidenten grundsätzlich recht haben müssen.

Vielleicht an dieser Stelle noch ein Nachsatz zu einem der umstrittensten Wissenschaftsthemen heute: Die überwältigende Mehrheit der Klimaexperten geht von einem Trend zu steigenden Durchschnittstemperaturen aus und führt dies auf menschliche Aktivitäten zurück (These A). Ich selbst halte dies ebenfalls für die plausiblere Interpretation der Daten als die These B, wonach sich die Atmosphäre im Wesentlichen unabhängig vom Menschen aufheizt.
Nun könnte auch die These B zutreffen, auch wenn diese nur von einer Minderheit vertreten wird. Entscheidend ist aber für politisches Handeln eine Abwägung, die völlig losgelöst ist von Expertentum: Wenn die These A zutrifft und der Mensch weiterwirtschaftet wie bisher, sind die vermeidbaren materiellen und immateriellen Kosten für die menschliche Zivilisation um ein Vielfaches höher, als wenn These B zutrifft und der Mensch – eigentlich ja unnötig – sein Handeln ändert und den CO2-Ausstoß reduziert. In diesem Fall sind zwar soziale Kosten abzufedern, die aber weit geringer ausfallen, als wenn These A zutrifft und der Mensch den Planeten zur Wüste macht, obwohl er es vermeiden könnte. Hinzu kommt noch als zusätzlicher Bonus ein technologischer Impuls für umweltfreundlichere Verfahren. Oder anders gesagt: Wenn sich „Gläubige“ der These A durchsetzen, ist die Chancenverteilung beim Betrachten und Abwägen beider Szenarien günstiger, als wenn „Gläubige“ der These B den Meinungskampf gewinnen. (Noch eine Schleife: Da bei der Abschätzung von Wahrscheinlichkeiten dieser Art Mathematik mit ihren Annahmen ins Spiel kommt, enthält auch diese Argumentation nicht vollständig bekannte Anteile von Wissen und Glauben.)

Es handelt sich also um keine Entscheidung der Wissenschaft, sondern der Politik, weil sich die Alternativen auch mit Bauklötzchen darstellen lassen. Was auch bedeutet, dass die Forderung „Hört auf die Wissenschaft“ a) definitiv vernünftiger ist als sich die Ohren zuzuhalten, aber b) das eigentliche Problem noch nicht löst, sondern nur einen kleinen Schritt zur Lösung darstellt – der zudem in die falsche Richtung gehen könnte.

Stefan Noir: Philosophisches Essay – Über Gott und die Welt

Beitrag geringfügig sprachlich redigiert am 20. September 2023.

Veröffentlicht in # 03-22 Debattenkultur Erkenntnistheorie Religion Wissenschaft

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