In den Debatten um Klimawandel und Corona-Pandemie war – und ist – der Ruf vernehmlich zu hören: „Folgt der Wissenschaft!“ Einer der Rufer ist Jochen Rack, der in einem ausführlichen Essay im Deutschlandfunk (Hörbeitrag und Text siehe Link unten) am Beispiel der Debatte um die Corona-Maßnahmen die These formuliert, dass viele Menschen ein Problem mit wissenschaftlichen Erkenntnissen haben, da diese ihren Erfahrungen aus dem Alltag widersprechen. Nach dem Motto: Was man nicht sehen, riechen, schmecken kann, gibt es nicht. Der Beitrag enthält Formulierungen wie „Erkenntnisse der Wissenschaften für den Laien kaum begreiflich“, „Welt ist kompliziert“, „kognitive Überforderung“, denen sich entnehmen lässt, dass der einzelne Mensch intellektuell nicht ausreichend ausgestattet ist für unsere komplexe Welt:
„In der Pandemie wird ein grundsätzliches Problem moderner Gesellschaften offenbar: Die Erkenntnisse der Wissenschaften, von denen unser Leben abhängt, lassen sich durch natürliche Erfahrung, unmittelbaren Augenschein oder sinnliche Evidenz nicht beglaubigen, ja oft genug widersprechen sie der lebensweltlichen, leiblichen, sinnlichen Erfahrung.“
Die Reaktion auf Hilflosigkeit und Desorientierung könne „der Rückzug auf vermeintliches Körperwissen in der Heil- und Esoterikszene sein, aber auch wütendes Querdenken und der Glaube an Verschwörungserzählungen.“ Das Fazit des Autors: Wissenschaftliche Expertise sei nicht in Frage zu stellen, sondern im Gegenteil zu stärken, die Nicht-Experten müssten ihre faktische fachliche Unterlegenheit anerkennen und auf den Rat der Experten hören – was notfalls auch mit Strafen zu sanktionieren wäre. Er fordert nichts weniger als eine „erneute Anstrengung der Aufklärung. Das heißt eine Stärkung und Bekräftigung der Idee einer verbindlichen Vernunft, die durch die philosophische Kritik der letzten Jahrzehnte geschwächt wurde und einem Relativismus Tür und Tor geöffnet hat, der alternative Fakten, Mythen und Lügen mit wissenschaftlicher Erkenntnis gleichwertig setzt.“
Spontan drängen sich hier zwei Fragen auf: Was passiert, wenn sich Wissenschaftler selbst nicht einig sind – welchen soll ich folgen? Einfach der Mehrheit? Rack bringt selbst eine Reihe von Beispielen aus der Wissenschaftsgeschichte, in denen sich Meinungen von Außenseitern später als richtig erwiesen haben. Zweite Frage: Wieviel Aktivismus verträgt die Wissenschaft – also wieviel Voreingenommenheit, die das Forschen an Zielen orientiert, die außerhalb der Wissenschaft liegen? Moralische, politische Ziele können ja gut oder schlecht sein, ethische Abwägungen können unterschiedliche Ergebnisse haben. Anders gefragt: Wer definiert die Inhalte der oben zitierten „verbindlichen Vernunft“? Und wieviel Aktivismus ruft die Politik in der Wissenschaft hervor, wenn sie selbst nicht entscheiden will und die Gestaltung des Zusammenlebens den Wissenschaftlern überlässt?
Ich selbst halte es für durchaus richtig, sowohl energisch gegen den Klimawandel als auch in maßvoller Abwägung gegen die Corona-Pandemie vorzugehen – wobei aber eine offene Debatte gewährleistet sein muss, ohne Menschen mit anderer Wahrnehmung auszugrenzen und zu denunzieren. Und ich meine anders als der Autor, dass die Politik Entscheidungen treffen muss und sich die Wissenschaft darauf beschränken muss, zu beraten.
Jochen Rack: Erneute Aufklärung Wissenschaft und ihre Erkenntnisse brauchen Vertrauen; erschienen im DLF-Format „Essay und Diskurs“
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