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Rationale Selbsttäuschung: Wie Meinung die Wahrnehmung von Fakten bestimmt

Worum es geht: In einem faszinierenden Stück Wissenschaftsjournalismus hat Reto Schneider herausgearbeitet, was die Forschung über das Entstehen und vor allem das Beharren auf Meinungen ermittelt hat.
Das Zitat: „Wenn Meinungen auf einer nüchternen Analyse von Fakten beruhten, wie Politiker oft behaupten, dann müssten wir heute eigentlich alle einer Meinung sein. Selbst wenn man in Betracht zieht, dass Kultur, Erziehung und Weltsicht eine Meinung mitformen: ist es nicht erstaunlich, dass Appenzeller unterschiedliche Meinungen haben, die Kessler-Zwillinge oder die Nationalräte Roger Köppel von der SVP und Balthasar Glättli von den Grünen, die als Studienkollegen an der Uni Zürich auch noch in derselben Philosophievorlesung sassen? Heute haben wir per Mausklick alle Fakten zur Verfügung. Einig sind wir uns deshalb nicht geworden.“ Zu einer Studie aus den 1970er Jahren schreibt Schneider: „Ernüchtert stellten die Wissenschafter fest, man könne offenbar nicht erwarten, ‚dass aus ‹objektiven› Daten über brennende gesellschaftliche Themen ein Konsens über die Politik hervorgehe'“. Nebenbei erklärt er Begriffe wie Confirmation Bias, Motivated Reasoning oder Desirability Reasoning auf verständliche Weise.
Gedanken dazu: Dass subjektive Meinungen die Wahrnehmung und Einordnung von Fakten sortieren und bestimmen, kratzt am Idealbild des mündigen, zu rationalen Entscheidungen fähigen Bürgers. Die Demokratie scheint also auf einem recht wackeligen Fundament zu gründen. Auch weil die rationale Selbsttäuschung gerade diejenigen in eine beachtliche Fallhöhe bringt, die besonders überzeugt von der Richtigkeit ihrer Meinung sind – das sind häufig opinion leaders. Andererseits: Die liberale Demokratie eignet sich besser als andere Systeme dafür, die erkenntnistheoretischen Unzulänglichkeiten des Menschen aufzufangen, da sie den offenen Wettstreit unterschiedlicher Meinungen zulässt – in der Hoffnung, dass die „Weisheit der Vielen“ dann schon die richtige Entscheidung trifft. Ganz abgesehen davon, dass der demokratische Kompromiss zudem eine dämpfende Wirkung auf „falsche“ Entscheidungen hat. Noch viel wichtiger: Diktaturen fordern Konsens (ob sie ihn bekommen, ist eine andere Sache), Demokratien im ursprünglichen Sinn nur die Akzeptanz fairer, aller praktischen Politik übergeordneter Spielregeln. Die beiden wichtigsten: andere Meinungen innerhalb des rechtsstaatlichen Rahmens ebenso wie Mehrheitsentscheidungen friedlich zu akzeptieren.

Zum Beitrag auf NZZ online:
Warum wir glauben, was wir glauben wollen

Veröffentlicht in Debattenkultur Erkenntnistheorie

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